23 November 2006

Ganz nah bei der politischen Macht

Man bekommt nicht alle Tage Gelegenheit, in ein wichtiges Institut einer grossen Partei eingeladen zu werden. Der Bruder einer Göncöl-Mitarbeiterin ist beim sogenannten Bürgerhaus, einer Kultur- und Begegnungsstätte der Oppositionspartei Fidesz angestellt. Zusammengerafft die Positionen hier im Land: Die Sozialisten regieren das Land seit 6 Jahren, glaube ich. Seit zwei Jahren ist der berüchtigte Premierminister Gyurcsany an der Macht, der nach dem Wahlerfolg im Frühling in einer geheimen Rede erklärt hat, dass er das Volk angelogen habe. Seitdem sind sich die beiden grossen Parteien noch mehr Spinnefeind. Die Oppostitionspartei Fidesz um Vorsteher Victor Orban war massgeblich beteiligt, Volksdemonstrationen gegenüber der Lügenrede Gyurcsanys in Gang zu setzen, nicht zuletzt am Gedenktag zum Beginn des Ungarn-Aufstands 1956. An der darauffolgenden Strassenschlacht zwischen Demonstranten und Polizisten wurden schätzungsweise 200 Leute verletzt.
Nachdem ich vom Bruder meiner Arbeitskollegin im Bürgerhaus empfangen wurde, wurde ich sofort in die Ausstellung begleitet. Aufgeplatzte Lider, grössere Wunden an Rücken von Gummigeschossen und Nahaufnahmen von nicht gekennzeichneten, vermummten Polizisten (was gemäss ungarischem Gesetz nur im Kampf gegen den Terrorismus erlaubt ist). Bilder also von der Strassenschlacht (ich habe dazu auch den Link bekommen).
Ich stelle es mir ungemein anstrengend vor, dass noch unbeeinflusste Leute hier in dieser angespannten politischen Lage sich ein neutrales Bild machen können. Wenn zwei Stimmen schreien, glaubt man zuletzt doch keiner! Jedenfalls hielt sich beim Abschreiten der Schreckensbilder mein Mitgefühl in Grenzen, stattdessen war ich mir mehr der manipulativen Geste bewusst.
(Nachtrag vom 24.11.06: Ein guter Abriss der aktuellen politischen Verhältnisse in Ungarn liefert ein NZZ-Artikel)

Ich habe in der Diskussion mit dem Fidesz-Anhänger jedoch einiges erfahren, nicht zuletzt zum immer wieder präsenten Thema der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern. (ich habe hier gutes Kartenmaterial, wenn es jemanden näher interessiert).
Doch spannend war für mich auch ein Punkt, der während des Politologie-Studiums ab und an Thema war: Die verschiedenen Konfliktlinien (Cleavages) innerhalb eines Landes. In der Schweiz gibt es anhand der Abstimmungen der letzten 20 Jahre drei Spaltugen: wirtschaftlich, gesellschaftlich und ökologisch (gemäss Herrmann/Leuthold). Die Parteien haben sich vorwiegend nach den beiden ersten Faktoren aufgestellt.
In Ungarn sollte man zuallererst die Bezeichnungen der Parteien vergessen, das verwirrt nur. Die Sozialisten (unter Gyurcsany) sind für Marktliberalisierungen, möchten sich möglichst gut mit der EU stellen und sind gesellschaftlich liberal (z.B, Abtreibungsbefürwortung). Die Fidesz wollen den Markt nur gezielt öffnen, insbesondere gegenüber den EU-Partnern sind sie vorsichtig. Sie sind nationalistisch in dem Sinne, dass sie sich um die ungarischen Minderheiten im Ausland kümmern. Zudem sind sie gesellschaftlich konservativ.
Die Konfliktlinien der Schweiz kann man also nicht entsprechend verwenden. Zudem hat die gesellschaftliche Polarisierung weniger Relevanz.

Was das Äusserliche anbetrifft: Es war doch irgendwie seltsam, welchen normalen, ja geradezu banalen Eindruck die Einrichtugen und auch die Mitarbeiter hinterliessen. Vom Arbeitsklima und einer gewissen Ideologie-Gläubigkeit her, unterscheidet sich das Parteibüro nicht gross vom Umwelt-NGO.

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